Inhaltshinweis:
– Zugunfall
– Möglicher Tod / Suizid eines Menschen
– Krankheit und Tod (m)einer Katze
Mittwoch
Vorletzte Woche habe ich einen Menschen unter einem Zug liegen sehen. Ich weiss nicht, ob es ein Unfall, Suizid oder Fremdeinwirkung war. Der Mensch lag unter dem Zug, war schrecklich grau und ich meine, dass er sich noch leicht bewegt hat.
Nein, ich habe nicht geglotzt, im Gegenteil, ich habe so schnell wie möglich weggesehen. Ich will solche Dinge nicht sehen, sie überfordern mich und die Bilder bleiben in meinem Kopf kleben. Wann immer ich von weitem sehe, dass irgendetwas passiert ist, mache ich einen grossen Bogen darum und schaue aktiv weg.
Diesmal habe ich es leider nicht von weitem gesehen, sondern es war ganz plötzlich vor meinen Augen. Beim Weiterlaufen habe ich sehr schnell gemerkt, dass ich beginne zu hyperventilieren und den Kontakt zu meinem Körper verliere. Da mir dies nicht passieren darf, wenn ich alleine unterwegs bin (weil ich dann nicht mehr handlungsfähig bin) habe ich meinen Vampir angerufen. Er hat mit mir gesprochen und war da, bis ich sicher im Zug nach Hause war. Was 1.5h gedauert hat, weil ich mich erstmal beruhigen musste, an dem Bahnhof, an dem ich war, kein Zug mehr fuhr, ich die Enge des Trams nicht aushielt und deshalb mit grossem Arbeitskoffer zum nächsten Bahnhof laufen musste.
Es war ein sehr heftiger Zusammenbruch und die Alternative zum Telefonieren wäre gewesen, zu den Rettungskräften zu gehen und mich von ihnen behandeln zu lassen. Da dies aber mit Kontakt mit fremden Menschen, viel Unruhe und vielleicht auch noch „mehr vom Vorfall mitbekommen“ verbunden gewesen wäre, was mich noch mehr überfordert hätte, bin ich sehr dankbar, dass ich auf die telefonische Unterstützung zurückgreifen konnte. Mit dieser Hilfe und eines “SOS bei Panik” – Meditation Files bin ich sicher nach Hause gekommen.
Handeln
Ich wusste, dass ich ins Handeln kommen muss, irgendetwas machen, um nicht von meinen Gefühlen erdrückt zu werden. Und das Grau hat mich verfolgt. Also begann ich zu malen. Grau, natürlich. Und dann, das Grau bunt zu machen. Ich habe mir während des Prozesses auch überlegt, ob es wohl möglich wäre, das Bild später dem Menschen (wenn er noch lebt) oder seinen Angehörigen zukommen zu lassen, habe den Gedanken aber schnell verworfen, auch weil allein das herausfinden, wer es war, mit ziemlich viel Aufwand verbunden gewesen wäre. Ich will nicht behaupten, dass es mir nach dem Malen wieder gut ging, davon war ich weit entfernt, aber ich fühlte mich zumindest soweit stabilisiert, dass ich mich getraute, ins Bett zu gehen. Die Augen schliessen konnte ich allerdings nicht, da klebte immer noch das Bild…




Die restliche Woche
Am nächsten Tag war ich immer noch sehr mitgenommen, von Gefühlen überwältigt und ziemlich blockiert. Im Lauf des Tages ist mir klar geworden, dass ich mich nachhaltig um die Situation kümmern muss, wenn ich nicht will, dass es mich ewig verfolgt. Also habe ich geplant, wie ich allen unbedingt nötigen äusserlichen Anforderungen (Arbeit / Termine) gerecht werden kann und trotzdem genug Zeit und Kapazität habe, mich ausführlich um mich zu kümmern.
Ich habe die Playparty am Wochenende abgesagt und stattdessen beim Vampir Lego gemacht. Zusätzlich habe ich auch noch etwas graues Papier und Aquarellfarben mitgenommen. Als ich mit den Legos fertig war, habe ich gemalt.
Dinge sortieren / ordnen und nach Anleitung etwas hübsches zusammenbauen ist für mich immer eine sehr gute Beschäftigung, wenn mein Hirn Zeit braucht, um Gedanken, Erlebnisse und Gefühle zu ordnen, ich diese aber noch nicht greifen und ausdrücken kann. Und wenn sie einigermassen geordnet sind, sich aber immer noch nicht sprachlich ausdrücken lassen, geht das oft bildlich. Mich mit grau konfrontieren, grau bunt machen…


Später am Abend habe ich die Bilder immer wieder angeschaut, und irgendwann ist mir aufgefallen, dass man beim geschriebenen Grau mit etwas Phantasie das a auch als o und das u auch als w interpretieren könnte, was dann grow ergibt, also wachsen. In dieser Nacht konnte ich die Augen zum ersten Mal wieder schliessen, ohne gleich das angeklebte Bild zu sehen.
Als ich nach dem Wochenende wieder daheim war, fühlte ich mich auch den grauen Hosen gewachsen, welche ich für die Arbeit nähen sollte. Und bei einem Spaziergang fand ich während dem Nachsinnen über das Erlebte einen Stein, der von mir mitgenommen werden wollte. Er ist jetzt das Herz eines Sterns, der das Grau erleuchtet.

Der Bahnhof
Ich hatte Angst, dass ich den Bahnhof nie mehr betreten kann, ohne starke Erinnerungsschübe zu bekommen, also war es für mich wichtig, ihn bald und sehr bewusst wieder zu besuchen. Dies habe ich Ende Woche in Begleitung meines Vampirs gemacht. Ich habe da eins geraucht, wo ich auch damals eins geraucht habe. Ich bin denselben Weg am Gleis entlang gelaufen und habe das erste Bild, das ich gemalt habe, am Bahnhof ausgesetzt. Ich habe mich vergewissert, dass niemand mehr auf den Gleisen liegt. Ich hoffe, den Bahnhof zukünftig wieder unbeschwert nutzen zu können.

Grau lebendig machen
Und ich mache immer noch Grau lebendig. Ich mache Bilder, in denen Grau die Basis ist und von anderen Farben lebendig gemacht wird. Wie lange ich das noch machen werde, wird sich zeigen. Auch wenn ich immer noch nicht richtig formulieren kann, was das Ereignis in mir ausgelöst hat, setze ich mich damit auseinander, auf meine Art. Die künstlerische Arbeit hat dem Grau die Gefahr genommen, langsam wird es wieder eine Farbe wie jede andere.


P.S.
Es gab den Moment, an dem ich gerne wissen wollte, was genau passiert ist. Also habe ich gegoogelt, die einzigen Infos sind: “Der Bahnverkehr war unterbrochen. Der Grund dafür ist ein Fremdereignis. Die Stadtpolizei Zürich bestätigt einen Einsatz. Die Hintergründe sind bis anhin unklar.” Zu Beginn war das sehr frustrierend, inzwischen kann ich es annehmen und mich wieder ganz auf mich und meine Verarbeitung konzentrieren.
P.P.S.
So ganz nebenbei habe ich während der Verarbeitung dieses Ereignisses auch noch etwas weiter zurückliegendes mitverarbeitet. Letztes Jahr ist meine Katze gestorben und in den Monaten davor brauchte sie viel Pflege, unter anderem musste ich ihr Medikamente in den Mund spritzen (ohne Nadeln). Das war immer die reinste Folter für mich (und für sie wohl auch). Aus Gründen habe ich die Spritzen behalten und bei den meisten der gemachten Bilder habe ich sie benutzt, um die Farben ins Grau zu bringen. Ich habe also mit etwas, das für mich mit Gewalt und Sorgen verbunden war, etwas Schönes geschaffen.
