Vorhersehbarkeit

Je mehr ich einfach Ich bin, desto mehr habe ich gemerkt, wie wichtig mir Vorhersehbarkeit und die Möglichkeit, mich auf Dinge vorzubereiten ist. Ein grosser Aspekt beim Funktionieren und Maskieren ist bei mir das Overthinking. Ich zerdenke alles so sehr, dass ich auf alle Möglichkeiten vorbereitet bin und entsprechend darauf reagieren kann. Je mehr ich im Moment bin, desto ungefilterter und durchlässiger bin ich. Desto mehr können mich Überraschungen aus der Bahn werfen. Und sei es nur ein plötzliches lautes Geräusch. Wenn ich auf das Geräusch vorbereitet bin, wenn ich weiss, dass es kommt, erschrecke ich weniger und mein Körper sendet keine Stresshormone aus. 

Ich bin mir bewusst, dass unvorhersehbare Dinge unvermeidlich sind, aber es gibt auch viele Dinge im alltäglichen Leben, die man ankünden kann. Wenn man etwas Lautes einschaltet, wenn man mich berührt, wenn man das Licht verändert, was es zu essen gibt… Dies sind kleine Dinge, aber sie machen für mich wahnsinnig viel aus. Sie geben mir die Möglichkeit, mich vorzubereiten und zu schützen, ich kann mir z.B. die Ohren zuhalten, die Augen schliessen, die Berührung ablehnen oder etwas eigenes zum Essen mitnehmen. Je vorhersehbarer etwas ist, desto besser kann ich mich vor einem Overload schützen, weil ich mir schon vorher überlegen kann, ob ich die Energie dafür habe und was mir helfen könnte mich zu regulieren. 

ÖV fahren ist für mich zum Beispiel immer sehr anstrengend wegen der vielen Reize und Unvorhersehbarkeiten. Je besser ich darauf vorbereitet bin, den Fahrplan kenne, weiss wie ich wo umsteigen muss, wie viele Menschen es um diese Zeit etwa hat, im Idealfall die Strecke schon kenne, desto weniger Energie kostet es mich. Eine simple Verspätung kann den Energieverbrauch verdoppeln, bei einem Ausfall sind wir schnell beim Vierfachen und wenn die Ersatzverbindung ein vollgestopfter Bus ist, der einen Zug ersetzt, ist der Tag für mich gelaufen. Wenn ich vorher weiss, dass ich eine solche Ersatzverbindung benutzen muss, brauche ich wohl immer noch dreimal so viel Energie wie ohne, aber bin danach wenigstens nicht ganz fertig.

Überraschungen sorgen bei mir für Stress und Überforderung. Egal ob ich sie positiv oder negativ wahrnehme. Und Überforderung führt in einen Overload. Und ein Overload führt zum Shutdown. Je weniger Überraschungen, desto besser. Wenige Überraschungen heisst viel Vorhersehbarkeit.

Zeitblind

So ein wunderschönes und treffendes Wort. Nein, ich habe nicht einfach ein schlechtes Zeitgefühl, ich bin Zeitblind. Ich kann weder gut abschätzen, wie lange eine Tätigkeit dauert, noch mich erinnern, wie lange etwas her ist. Und auch die Zukunft ist für mich sehr schwer fassbar. 

Wirklich fassbar ist für mich nur der Moment, in dem ich gerade bin. Manchmal, wenn ich am Abend ins Bett gehe und mich an den Morgen erinnere, habe ich das Gefühl, da ist eine Woche dazwischen vergangen. Und manchmal ist es Abend, und ich weiss nicht, wo der Tag geblieben ist. Manchmal schleichen die Sekunden und manchmal fallen Stunden bruchstückartig weg. Manchmal mache ich in einer Stunde wahnsinnig viele Dinge und manchmal kriege ich an einem ganzen Tag nichts gemacht. Dieses Manchmal ist nicht gemeint als “es passiert mir hin und wieder, dass…” sondern als “manchmal das eine, manchmal das andere”. 

Ich nehme Tageszeiten wahr, Lichtveränderungen. Die Uhrzeit wahrzunehmen habe ich mir antrainiert, genauso wie ich die Dauer von bestimmten Tätigkeiten gelernt habe. Wenn ich also sage, dass ich für eine Arbeit 10 Minuten brauche, dann kann ich das nur machen, weil ich mal dabei auf die Uhr geschaut und es mir gemerkt habe. Wenn ich die Entstehung von meinen Bildern filme, bin ich immer sehr erstaunt, wie wenig Zeit ich dafür brauche, es fühlt sich immer nach vielen schönen Stunden an, die ich daran gemalt habe, auch wenn es effektiv nur 2 sind. Schon oft habe ich jemandem gesagt, dass ich in 10-20min mit etwas fertig bin und dann waren es entweder 5min oder eine Stunde.

Nun zur Langzeitwahrnehmung. Dinge, die in den letzten 6 Monaten geschehen sind, kann ich meist einigermassen einordnen, alles andere ist einfach Vergangenheit. Oft kann ich die Jahreszeit benennen, in der etwas geschehen ist, aber um zu wissen, ob es jetzt 3 oder 7 Jahre her ist, muss ich aktiv rechnen (was ich dann anhand meiner Beziehungen mache).

Genauso ist es mit der Zukunft, diese ist für mich nicht greifbar. Ich kann wichtige Dinge wie Arzttermine über einige Monate planen, die sind dann einfach in der Agenda. Aber Verabredungen, Dinge die ich aus Spass für mich mache, kann ich immer nur etwa einen Monat im Voraus planen, Ferien etwas länger. Wer weiss schon, was danach ist?

Samefood

Ich esse gern immer wieder dasselbe. Und da Essen (wegen der vielen unterschiedlichen Reize) für mich sowieso oft schwierig und mit Stress verbunden ist, probiere ich nur ungern neue Sachen aus. Wenn ich vorher schon genau weiss, wie mein Essen schmecken wird, ist es viel stressfreier. So esse ich oft tagelang genau das gleiche, auf die genau gleiche Art zubereitet. Immer dasselbe zu essen ist vorhersehbar, es sind Routinen. Und diese geben mir Sicherheit. 

Es ist auch ganz schlimm für mich, wenn ich ein bestimmtes Essen erwarte und dann ein Detail davon anders ist, zum Beispiel ein Gewürz beigemischt wurde, dass da nichts zu suchen hat. Früher dachte ich, ich sei einfach kompliziert, heute weiss ich, dass es für mich wegen der intensiveren Reizwahrnehmung sehr herausfordernd ist, etwas in den Mund zu nehmen, von dem ich nicht weiss, ob ich es mag.

Safefood

Das Wort “Safefood” hat mich tief getroffen, weil ich es intuitiv verstanden habe und mich verstanden fühlte. 

Essen war für mich schon immer ein schwieriges Thema, einerseits habe ich viele Dinge wegen Geschmack oder Konsistenz nicht gern, andererseits fällt es mir schwer, unter Menschen zu essen, das löst bei mir immer viel Stress aus. Dies kann so weit gehen, dass ich fast Panikattacken bekomme, wenn ich mit jemandem Essen gehen muss oder jemand für mich kocht, den ich nicht sehr gut kenne.

Ich teile Essen (vor allem wenn ich Stress habe oder Reizüberflutet bin) in “geht” oder “geht nicht” ein. Diese Einteilung hat nichts mit “habe ich Lust drauf” zu tun, sondern widerspiegelt das Gefühl, dass wirklich nur das geht und mir von allem anderen schlecht werden würde. So habe ich auch einige Lebensmittel, welche ich als “geht fast immer” einstufe und darum immer zuhause haben muss. Diese Lebensmittel sind Safefood für mich, sicheres Essen. Auch wenn ich eigentlich zu überfordert zum Essen bin, kriege ich vielleicht ein bisschen davon in mich rein. Und das ist immerhin besser, als nichts zu essen.

Autistisches Burnout

Nun, eigentlich ist es vergleichbar mit einem normalen Burnout, nur die auslösenden Faktoren sind leicht andere. 

Oft entsteht ein autistisches Burnout, weil man versucht, den Anforderungen einer neurotypischen Welt gerecht zu werden. Man will mehr leisten, als man eigentlich kann, vielleicht weil man denkt, das zu müssen, vielleicht, weil man die Dinge wirklich gern machen will. Man verbraucht mehr Energie, als man eigentlich hat, und dies fordert irgendwann seinen Tribut. Was unweigerlich zu einer grossen Erschöpfung führt, in der dann lange Zeit gar nichts mehr geht. 

Rückblickend glaube ich, dass ich schon mehrmals in meinem Leben in oder zumindest knapp vor einem solchen autistischen Burnout war. Es waren die Phasen, in denen ich mich zurückgezogen habe und nur noch das Nötigste geleistet habe. In denen ich nicht mal mehr Energie für Dinge hatte, die ich sonst gern mache und meine Kreativität verschwunden ist. Je schneller ich jeweils auf diesen Zustand reagieren und mir eine Auszeit nehmen konnte, desto besser war es für mich. So konnte ich zum Beispiel, als ich im Heim von der Berufswahl überfordert war, ins Time-Out und mich dort 3 Monate komplett zurückziehen. Später musste ich mich dann mit Ferien und viel, viel Schlaf über Wasser halten.

Meltdown

Übersetzt ist dies eine Kernschmelze, ein Zusammenbruch. Es ist quasi das Gegenstück zum Shutdown, und auch dasselbe. Wo der Shutdown nach innen gerichtet ist, ist der Meltdown nach aussen gerichtet. Früher habe ich ihn mit Panikattacken verwechselt, auch wenn ich nie so genau sagen konnte, woher sie kommen. Es ist auch wirklich sehr ähnlich wie bei einer Panikattacke, nur halt von einer Überforderung statt von Angst ausgelöst. Inzwischen habe ich nur noch selten Meltdowns, meistens tendiere ich zu Shutdowns. In meiner Teenagerzeit habe ich aber immer mal wieder welche gehabt, da habe ich geschrien, geweint, um mich und in Wände geschlagen. Genau wie beim Shutdown war ich mir dabei immer irgendwie bewusst, dass mein Verhalten gerade irrational ist, ich konnte aber nichts dagegen machen. Ich war einfach so überreizt, dass die einzige Lösung für mein Nervensystem war, dies rauszulassen. Und wie auch ein Shutdown ist ein Meltdown wahnsinnig anstrengend und braucht danach viel Regenerationszeit.

Shutdown

Dies bedeutet soviel wie Abschalten. Früher dachte ich, dass ich eine dissoziative Störung habe, bei der ich mich aus unerfindlichen Gründen keine Gedächtnislücken habe. Heute weiss ich, dass ein Overload dazu führt, dass ich in einen -der Dissoziation ähnlichen- Zustand verfalle. Ich schalte ab, verschliesse mich dann ganz in mir selbst, bin meist nicht mehr fähig zu kommunizieren und mir gleichzeitig völlig bewusst, dass mein Verhalten gerade alles andere als konstruktiv ist. Ich spüre dann auch meinen Körper und meine Emotionen nicht mehr richtig. Wenn ich mir dann zum Beispiel weh mache, merke ich zwar, dass da ein Input auf meinen Körper kommt, der eigentlich weh machen sollte, empfinde aber den Schmerz nicht. Genauso nehme ich rational wahr, welche Emotionen meinen -dann sehr lauten, schnellen und destruktiven- Gedanken zugrunde liegen, bin aber nicht fähig sie wirklich zu fühlen. Ich will aus dem Zustand raus, ich will nicht so sein, ich will kommunizieren, will die Umarmung annehmen können. Aber es ist mir unmöglich, es geht nicht, so sehr ich mich auch anstrenge. Und das macht es nur umso schlimmer. Alles was ich machen kann, ist aushalten und warten, bis es vorbei ist. Alles was mein Umfeld machen kann, ist die Situation annehmen, mir wenn nötig ja / nein Fragen stellen und vor allem mich nicht unter Druck setzen. Und mir nachher die Zeit geben, wieder zu regenerieren, denn so ein Shutdown ist wahnsinnig anstrengend.

Overload

Dies heisst so viel wie Überlast. Und das bin ich ganz oft, überlastet. Von zu vielen Reizen, von zu vielen Emotionen, von Entscheidungen. Ich fühle mich dann überfordert und überflutet von all den Eindrücken und Dingen, die auf mich einstürmen, ohne die Zeit, sie zu verarbeiten. Früher habe ich das meist unterdrückt, habe so getan, als sei nix, weil alle anderen das ja auch händeln können. 

Es sind oft kleine Dinge, welche gesammelt zu einem Overload führen oder eben dazu beitragen, ihn aushaltbar zu machen. Inzwischen, mit dem Wissen, dass ich wirklich mehr Eindrücke wahrnehme und auch alles tiefer verarbeite als neurotypische Menschen, habe ich gelernt, die Anzeichen frühzeitig zu erkennen und zu kommunizieren. 

Ich habe Strategien gefunden, wie ich mich selbst regulieren kann und auch, wie mir nahe Menschen dabei helfen können. Ich habe gelernt, mich aus Situationen herauszunehmen, wenn Sie mir zu viel sind und meine Grenzen auch in kleinen Dingen zu ziehen. So entscheide ich zum Beispiel an einer Party bewusst, wen ich zur Begrüssung umarme, wem ich die Hand gebe und wem ich einfach nur winke und Hallo sage, ohne dass ich Angst habe, jemand könnte es persönlich nehmen. Oder ich mache einfach die Augen zu und lasse mich führen, um den visuellen Eindrücken nicht ausgesetzt zu sein. Und ich habe gelernt, dass ich nach potentiell überfordernden und reizintensiven Unternehmungen (wozu zum Beispiel auch Einkaufen zählt) Regenerationszeit brauche und diese besser einplane.

Folgen eines Overloads können ein Shutdown oder Meltdown sein.

Ungefiltert und Durchlässig

Dies sind zwei Zustände, mit denen ich mich manchmal selbst bezeichne. Um sie verständlich zu machen, muss ich zuerst erklären, was ich mit Filtern meine.

Ich filtere ständig in zwei Richtungen, nach aussen und nach innen. 

Nach innen ist es mehr eine Übersetzungsfunktion. Mensch macht oder sagt irgendwas, Mensch will damit wahrscheinlich xy ausdrücken / erreichen. Dabei unterscheide ich stark zwischen individuellem Lieblingsmenschen und der Durchschnittsgesellschaft.
Zudem ist es eine Fokussierung auf möglichst wenige Reize. Es ist ein aussortieren von dem, was wichtig ist, und dem, was nicht wichtig ist. Zum Beispiel in einer Bar der Fokus auf das Gespräch, das ich gerade führe, auch wenn ich denen an den Tischen rundum trotzdem passiv zuhöre. Es ist ein Relativieren des Hintergrundrauschens.  

Nach aussen ist es ein Filtern, wie viel von dem, was ich gerade wahrnehme, ich ausdrücke und wie ich das mache. Wie viel Ich zeige ich, wie viel maskiere ich.

Diese zwei Filterarten laufen beinahe ständig mit. Aber es gibt Momente, in denen ich mich als durchlässig und/oder ungefiltert bezeichne. Oft kommen sie zusammen vor. Das sind Momente, in denen ich meine Filter ausgeschaltet habe. In der Durchlässigkeit nehme ich jede Aussage ernst und jede kleine Unstimmigkeit als grosse Bedrohung wahr. Auch bin ich dann körperlich noch reizempfindlicher als sonst. Es ist ein wunderbarer Zustand, solange alles gut ist. Aber ganz schrecklich, wenn dann blöde Dinge passieren, und sei es nur, dass ich mitbekomme, wie sich jemand unabsichtlich weh macht.
Ungefiltert bin ich absolut ehrlich und direkt, ich denke dann nicht darüber nach, wie etwas auf andere wirken könnte, sondern gehe davon aus, dass sie es schon richtig verstehen werden. Das sind Momente, in denen ich jegliche “macht man so” völlig vergesse und nur meinem Instinkt folge. 

Man könnte sagen, dass ich ungefiltert und durchlässig am meisten Ich bin und man hätte damit durchaus recht. Ich bin dann auf eine gewisse Art sehr kindlich, neugierig und unbeschwert. Und das ist wunderschön. 

Aber es sind auch genau die Zustände, in denen ich den Anforderungen des Lebens nicht gewachsen bin. Ich kann schlicht nicht Arbeiten, wenn ich jedes Mal, wenn ich mir in den Finger steche, einen Weinkrampf bekomme und jemanden brauche, der mich tröstet.

Unmasking / Entmaskieren

Wie der Begriff schon sagt, geht es dabei darum, die Maske abzulegen. Oft hört man, dass Menschen nach der Diagnose “autistischer” werden. Auch auf mich bezogen könnte man dies durchaus behaupten. Aber natürlich ist es nicht so. Was aber durchaus so ist, zumindest bei mir, ist, dass ich es weniger verstecke. Weil ich jetzt weiss, wie viel es mich kostet, beispielsweise in einem Gespräch Blickkontakt zu halten. Es ist ein laufender Prozess, den ich sicher noch nicht abgeschlossen habe, es fühlt sich ein bisschen so an, als würde ich mich nochmals neu und vor allem viel tiefer kennenlernen. 

Dies ist unglaublich bereichernd, aber auch anstrengend. Ich bin wahnsinnig dankbar dafür, dass ich Menschen an meiner Seite habe, die mich darin begleiten und unterstützen. Menschen, die mir die Sicherheit und den Schutz geben, welchen mir früher das Maskieren gegeben hat, bis ich irgendwann hoffentlich genug Selbstvertrauen habe, dass diese Sicherheit auch ohne Maskieren aus mir selber kommt.