Von emotionalen und körperlichen Verletzungen

Mit Verletzungen meine ich Dinge, die Schmerzen verursachen und keine Krankheiten sind. So ist zum Beispiel ein Schnitt oder ein Bruch eine körperliche Verletzung, Krebs hingegen eine Krankheit. Ebenso ist eine Enttäuschung oder eine Beleidigung eine emotionale Verletzung, eine Depression aber eine Krankheit. Krankheiten können einen Einfluss auf Verletzungen haben, so kann durch eine Krankheit das Immunsystem geschädigt sein, weshalb derselbe Schnitt mehr Pflege bedarf, als bei einer Person ohne Krebs. Und die Depression kann dazu führen, dass kleine emotionale Verletzungen viel stärker wahrgenommen werden. Ebenso können frühere Verletzungen am selben Ort oder auf die selbe Weise Einfluss auf die direkten Folgen sowie die Wahrnehmung einer Verletzung haben. Und Verletzungen können, wenn sie nicht oder falsch behandelt werden, chronisch werden und sich zu Krankheiten entwickeln. Auf diese Verbindungen möchte ich in diesem Beitrag ausdrücklich nicht eingehen, sondern mich nur auf die einzelne Verletzung konzentrieren. Auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von emotionalen und körperlichen Verletzungen sowie den möglichen Umgang damit. 

Die Unterschiede

Eine körperliche Verletzung ist sichtbarer. Manchmal sieht man sie von Aussen, manchmal benötigt man dazu ein bildgebendes Verfahren wie zum Beispiel eine Röntgenaufnahme. Aber sie ist ein nachweisbarer und beweisbarer Fakt.
Eine emotionale Verletzung lässt sich nicht nachweisen. Man empfindet sie, vielleicht zeigt sie sich im Verhalten oder in der Mimik. Man kann sie zwar fühlen und ausdrücken, aber nicht beweisen.

Der Schweregrad einer körperlichen Verletzung lässt sich messen und diesem Ergebnis kann man die Behandlung anpassen. Bei einem oberflächlichen Schnitt reicht es, zu desinfizieren und ein Pflaster drauf zu tun. Bei einem tiefen Schnitt sollte man zum Arzt gehen und ihn nähen lassen.
Der Schweregrad einer emotionalen Verletzung lässt sich nicht faktisch messen, allein die verletzte Person kann ihn vielleicht einschätzen. Bei einer leichten emotionalen Verletzung reicht vielleicht eine Entschuldigung, eine Umarmung oder schon das Aussprechen der Verletzung. Bei einer schweren emotionalen Verletzung wie einem Trauma sollte man sich professionelle Hilfe holen.

Bei einer körperlichen Verletzung kann man die Heilung messen. Man sieht, wann ein Schnitt verheilt ist und ob es eine Narbe hat. 

Bei einer emotionalen Verletzung kann immer nur die verletzte Person vielleicht einschätzen, wie gut sie geheilt ist.

Die Gemeinsamkeiten

Verletzungen schmerzen. Dieser Schmerz ist real, ob er nun körperlich oder emotional ist. Wir können ihn wahrnehmen oder mit verschiedenen Mitteln unterdrücken. 

Wir können körperlichen Schmerz auch emotional, sowie emotionalen Schmerz körperlich wahrnehmen. Zum Beispiel wenn wir wegen körperlicher Schmerzen schlechte Laune haben. Oder von emotionalen Schmerzen Kopfweh bekommen.

Beide Verletzungen können behandelt und vielleicht geheilt werden.

Wie man mit einer Verletzung umgeht, sie behandelt, hat viel mit dem Charakter, den Vorerfahrungen und der konkreten Situation zu tun.
So geht die eine Person bei körperlichen Verletzungen früher zum Arzt, die Andere später. Wieder ein Anderer näht den Schnitt selber.
Bei emotionalen Verletzungen möchte die eine Person vielleicht ausführlich darüber reden, eine Andere einfach vergessen, dass es geschehen ist. 

Wie eine Verletzung behandelt wird, kann einen Einfluss auf die Heilung haben.
Wenn ein Schnitt gut versorgt und sauber gehalten wird, ist die Wahrscheinlichkeit, dass er schnell und ohne Narbe heilt grösser, als wenn er dreckig ist und immer wieder aufreisst.
Wird eine emotionale Verletzung auf die für sich richtige Art behandelt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie heilt grösser, als wenn sie nicht verarbeitet oder vergessen ist und immer wieder aufreisst.

Ob eine Verletzung gut verheilt ist, kann einen Einfluss auf die Zukunft haben.
Wenn der Schnitt schlecht verheilt, kann dies Bewegungsprobleme oder Schmerzen nach sich ziehen.
Wenn eine emotionale Verletzung schlecht verheilt ist, kann sie einen Einfluss auf das emotionale Befinden sowie zukünftige Verhalten der Person haben.

Beide Verletzungen können nicht bemerkt werden und sich erst später zeigen.
Manchmal bemerkt man nicht sofort, oder muss zuerst herausfinden, dass oder wie schwer man verletzt ist.

Der Umgang 

Bei einer Verletzung ist es meiner Meinung nach in erster Linie meine Entscheidung, wie ich damit umgehe. Ich muss mit der Verletzung und den Folgen leben. Ich muss die für mich richtige Form der Behandlung finden. Wenn ich diese kenne und Zugang dazu habe, hat die Verletzung die besten Voraussetzungen, um so vollständig wie möglich zu heilen.

In dem Moment, wo ich jedoch die für mich beste Form der Behandlung nicht kenne, muss ich mich durchprobieren, vielleicht dauert die Heilung deswegen länger oder ist nicht ganz vollständig. Auch wenn ich für die Behandlung von weiteren Personen oder Hilfsmitteln abhängig bin, kann dies Schwierigkeiten mit sich bringen. So kann es sein, dass ich aus verschiedenen Gründen keinen Zugang zu medizinischer Behandlung, Ärzten oder Medikamenten habe. Oder, dass es mir wichtig wäre, von einer bestimmten Person eine Umarmung zu bekommen oder mit ihr zu sprechen, dies aber aus genauso vielfältigen Gründen nicht möglich ist.

Wenn dies der Fall ist, werde ich gezwungenermassen auf die zweit-, dritt-, oder viertbeste Form der Behandlung zurückgreifen. Wenn ich kein Desinfektionsmittel dabei habe kann ich den Schnitt vielleicht mit Wasser oder, sollte es das auch nicht geben, mit Spucke etwas reinigen. Und vielleicht bekomme ich von einer anderen Person eine Umarmung oder ein paar nette Worte. Natürlich wäre es anders besser, aber noch schlimmer wäre es vielleicht, den Schnitt gar nicht zu reinigen oder allein zu sein.

In einer idealen Welt hätten wir alle Zugang zu einem perfekten Gesundheitssystem und emotionale Verletzungen würden nicht geschehen. Wir leben aber nicht in einer idealen Welt. Ich vertrete die Meinung, dass jeder in erster Linie für sich selber verantwortlich ist. Natürlich ist es erstrebenswert, die wirklich beste Behandlung für jede Art von Verletzung zu bekommen. Und für diese einzustehen, sie zu erbitten oder manchmal auch zu fordern. Wenn aber der Zugang dazu (noch) nicht vorhanden ist, sollte man trotzdem versuchen, das zu machen, was man im Moment als Bestes machen kann, möge es noch so klein sein und nur ganz wenig helfen.
Denn ein wenig Pflege ist besser, als gar keine Pflege.
Und ohne Pflege gibt es nur selten eine Heilung.