Durch meine Hochsensibilität bin ich im Alltag immer sehr vielen Reizen und Emotionen ausgesetzt. Dabei habe ich selten die Kontrolle darüber, welche es gerade sind und bin oft damit beschäftigt, sie mir bewusst zu machen, zu reflektieren, woher sie kommen und was sie bewirken. Im BDSM kann ich einzelne Emotionen sehr gezielt erleben und in ihrer ganzen Pracht geniessen.
Die Hochsensibilität
Auch wenn ich sie lange unterdrückt habe, habe ich inzwischen meine Hochsensibilität angenommen. Ich weiss heute, dass ich anders bin als die Mehrheit. Ich nehme mehr Reize wahr, seien es Geräusche, Stimmungen oder optische Einflüsse. Mein Hirn funktioniert anders, es hat weniger Filter als dasjenige von neurotypischen Menschen. Und ich brauche deswegen auch länger, um Dinge zu verarbeiten. Wo ich mich früher mit einem “alle anderen können das ja auch problemlos” durchgekämpft habe, weiss ich heute, dass es für alle anderen wirklich einfacher ist.
Zum Beispiel Einkaufen. Ich gehe in ein Geschäft voller Menschen, ich nehme diese Menschen wahr, die Bewegung, den Lärm, den sie verursachen, die erschöpfte Mutter mit dem schreienden Kind, die Ungeduld des Menschen hinter mir an der Kasse… Das grelle Licht macht mir weh in den Augen, Werbedurchsagen irritieren mich und lenken mich von dem ab, was ich eigentlich will und ich bin von der Auswahl an Produktvariationen überfordert. Mich überfluten all diese Eindrücke und verursachen Stress. Früher habe ich das ausgehalten, weil es ja alle aushalten, es kann also nicht so schlimm sein. Ich habe meine Gefühle wegrationalisiert und meine körperlichen Reaktionen ignoriert. Heute achte ich darauf, zu Zeiten einzukaufen, in denen das Geschäft eher leer ist. Ich versuche immer in die selben Geschäfter zu gehen, weil ich da weiss, wo die Dinge sind, die ich will. Bekannte Sachen sind toll, es sind zwar immer noch viele Reize, aber ich habe sie schon mal verarbeitet, sie sind nicht mehr neu und die Verarbeitung geht schneller, braucht weniger Energie. So geht es mir in ganz vielen Alltagssituationen, was für die Mehrheit normal ist, bedeutet für mich Stress, es ist anstrengend und oft überfordernd. Man könnte jetzt denken, wenn ich allein an einem ruhigen Ort bin, kann ich von all diesen Dingen abschalten. Nur funktioniert das selten, weil ich dann meist damit beschäftigt bin, all das Erlebte zu verarbeiten.
Ruhe im Kopf
Es gibt nur wenige Dinge, bei denen ich mich völlig fokussieren und all die ungewollten Reize und Emotionen ausblenden kann. Mich kreativ auszudrücken ist eines davon, ein anderes ist, mich völlig auf etwas zu fokussieren. Wenn ich auf einen Reiz und somit eine Emotion wirklich fokussiert bin, überdeckt dies alles andere. Das Hintergrundrauschen externer Reize und meiner Gedanken und Verarbeitungsprozesse, welche im Alltag immer aktiv sind, wird leiser, manchmal schaltet es sich sogar ganz aus und ich existiere einfach nur im Hier und Jetzt.
Als Kind habe ich das viel mit Lesen gemacht, wenn ich in ein Buch vertieft war, lebte ich die Geschichte mit, fühlte die Emotionen der Figuren, verliebte mich mit ihnen, hatte Angst oder Mitleid, freute mich mit ihnen und war gespannt, wie es weitergeht. Ich bin in Büchern versunken und habe die Emotionen erlebt, die darin beschrieben waren. Ich mache das auch heute noch, aber es ist eben nur die eine Seite, es sind nur die Emotionen, das körperliche Erleben fehlt.
Ich habe mir schon früh auch körperliches Erleben gewünscht, ich wollte Sex haben, als gleichaltrige Küssen noch eklig fanden, weil in meiner Vorstellung Sex die ultimative Verbindung von körperlichem und emotionalem Erleben war.
Dann sind in meinem Leben Dinge geschehen, welche dazu geführt haben, dass ich einen grossen Teil meiner Emotionen unterdrückt und wegrationalisiert habe. Dies hat dazu geführt, dass ich jetzt zwar in einem Alter war, wo ich Sex haben konnte und hatte, aber der Teil des emotionalen Erlebens fehlte.
Ich kannte nun also beide Seiten, das abtauchen in emotionales Erleben beim lesen guter Bücher und das abtauchen in körperliches Erleben beim Sex. Beides gibt mir etwas Ruhe, aber beides hält nur so lange an, wie ich aktiv damit beschäftigt bin. Und so blieb immer die Frage “ist das alles?” im Hinterkopf.
Veränderungen
Etwa mit 25 hatte ich meinen ersten eigenen PC und somit freien Zugang zum Internet. Zeitgleich habe ich in einem wirklich tollen Buch namens “Liebe an der Schmerzgrenze” das Akronym BDSM entdeckt. Eines führte zum anderen und nein, Bücher und Sex sind eben nicht alles, da gibt es noch viel, viel mehr…
Mit meinem Einstieg in die Szene bin ich auch mit alternativen Beziehungsformen in Kontakt gekommen, offene Beziehungen, Polyamorie, Beziehungsanarchie… Da waren Menschen, die diesen Teil von mir nicht verurteilten oder mich komisch anschauten, im Gegenteil, sie verstanden mich und nahmen mich so an, wie ich bin, unterstützten mich sogar. Ich habe die Art Erlebnis gefunden, die mir wirklich etwas gibt, die es mir erlaubt, einfach im Moment zu sein und das Leben zu geniessen. Und ich habe eine Möglichkeit gefunden, Beziehungen so zu leben, wie sie mir zusagen, ohne mich einzuschränken. Mich selber zu spüren, ohne etwas verstecken oder vorspielen zu müssen. Einfach sein zu können. Ich fühlte mich sicher, und je sicherer ich mich fühlte, desto mehr haben sich meine emotionalen Mauern abgebaut, vor anderen sowie auch vor mir selber. Ich fühlte mich lebendig und frei.
Zu Beginn habe ich auch im BDSM mehr körperliche Erlebnisse gesucht, aber je sicherer ich mich gefühlt habe, desto mehr habe ich Emotionen zulassen können, sowohl im Alltag als auch im Spiel. Ich habe Körper und Emotionen vereint und die Verbindung geschaffen, die ich mir schon als Kind erträumt habe.
Urlaub im BDSM
So gut ich meinen Alltag auch an meine Bedürfnisse angepasst habe, bin ich ständig ganz vielen unterschiedlichen Reizen ausgesetzt, welche ebenso viele unterschiedliche Emotionen auslösen, ohne dass ich viel Einfluss darauf nehmen kann. Im BDSM kann ich mich gezielt auf einzelne Reize und Emotionen einlassen. Ich kann sie fokussieren und in ihrer ganzen Tiefe erleben, ohne durch andere Reize abgelenkt zu sein. Mein kindlicher Gedanke, dass Sex eine ultimative Art des Erlebens ist war schon richtig, nur ist normaler Sex auf einige wenige Emotionen beschränkt. Da geht es vorwiegend um Lust, Leidenschaft, vielleicht Verbundenheit.
Im BDSM steht mir die gesamte Bandbreite an Emotionen zur Verfügung. Und nicht nur das, auch sind alle diese Emotionen gewollt und dadurch positiv geprägt. Wenn ich weiss, was für ein Spiel ich haben werde, kann ich mich darauf vorbereiten und mich voll darauf einlassen. Und ich habe jederzeit die Möglichkeit, sie zu beenden.
Ich kann mich in einer Spanking-Session dem Schmerz komplett hingeben, ich kann ihn willkommen heissen und geniessen. Ich kann ihn sogar steuern, durch das gewählte Schlaginstrument und die Heftigkeit der Schläge.
Ich kann in der aktiven Rolle in die Macht und Kontrolle eintauchen, welche ich über jemanden habe, ich kann mich so sehr auf die Person fokussieren, dass nur noch ihre Reaktionen wichtig sind.
Ich kann mich in den Seilen fallenlassen, die Kontrolle über meinen Körper abgeben und ihn einfach nur spüren.
Ich kann Angst erleben, ohne in Gefahr zu sein.
Ich kann durch ganz leichte Berührungen in eine Zustand kompletter Harmonie verfallen, in dem einfach alles gut ist.
Ich kann mich in einem Überwältigungsspiel völlig ausgeliefert oder wehrlos fühlen.
Ich kann mich von jemandem beschützt fühlen oder jemanden beschützen.
Ich kann einfach nur aus Spass gegen Fesseln ankämpfen und geniessen, dass ich verliere.
Ich kann mich der Sehnsucht nach etwas hingeben und mich darüber freuen, wenn es erfüllt wird.
Manchmal kann ich sogar Überforderung geniessen.
Im BDSM setze ich bewusst Reize ein, um eine Emotion hervorzurufen. Dies führt dazu, dass ich gelernt habe, welche Reize was für Emotionen auslösen. Durch eine Steigerung dieser Reize kann auch die Emotion gesteigert werden, was dann wiederum körperliche Reaktionen auf die Emotion auslöst. Je stärker der Reiz, desto stärker sind auch die emotionalen und körperlichen Reaktionen. Wenn ich also zum Beispiel in einem Spiel Angst habe und diese gesteigert wird, beginne ich mich zu verkrampfen, die Zähne zusammen zu beissen. Irgendwann kommt ein Zittern dazu, ich umarme mich selber um mich zu schützen oder ich will weg laufen, je nachdem, was für eine Angst es genau ist. Und dies hilft mir im Alltag, wenn ich von vielen verschiedenen Reizen umgeben bin, um meine Emotionen anhand der körperlichen Reaktionen besser einordnen zu können. Denn im Alltag bin ich oft überfordert von der Fülle an unterschiedlichen Emotionen, die auf mich einprasseln. Im BDSM kann ich aus dieser Fülle an Emotionen einzelne herauspicken und mich darauf fokussieren.
Da ich mich am besten auf einen einzelnen Reiz und damit eine spezifische Empfindung fokussieren kann, bevorzuge ich Spiele, welche nicht zu viele Emotionen vermischen.
Hier kommt wieder das Hintergrundrauschen ins Spiel, je tiefer ich im Spiel bin, desto leiser wird es.
Ich möchte alle Emotionen erleben, aber ich möchte sie pur erleben, jede für sich allein. Je unverfälschter Emotionen sind, desto besser kann ich sie fokussieren, und je mehr ich sie fokussieren kann, desto besser kann ich mich in sie hineinfallen lassen, und desto ruhiger wird es in meinem Inneren. Und je tiefer ich in diese Ruhe abtauchen kann, desto länger hält die Ruhe an.
Aus diesem Grund ist es für mich auch wichtig, dass ich nach Spielen genug Zeit habe, um diesen Zustand auszukosten, ihn zu geniessen und möglichst lange aufrechtzuerhalten. Das Hintergrundrauschen, welches mich tagtäglich begleitet, so langsam wie möglich wieder lauter werden zu lassen.
Das könnte sich ein wenig nach Flucht anhören, für mich ist es aber viel mehr mit Urlaub zu vergleichen. Ich erhole mich dabei von all den Anstrengungen, welche die Hochsensibilität so mit sich bringt, ich geniesse ihre schönen Seiten und ziehe Energie daraus, welche mir danach im Alltag zugute kommt.