Von Reizen und Duschen

Gerade gestern hatte ich wieder mal die Situation, dass mir jemand gesagt hat: “Du kannst ja dann noch schnell duschen gehen.” Ähm ja, könnte ich. Werd ich aber nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss. Und vor allem nicht mal schnell nebenbei.
Wer mich etwas besser kennt, weiss, dass ich sehr reizempfindlich bin, dass ich viele Reize stark wahrnehme und sie auch schlecht filtern kann. Jemandem zu erklären, wie sich das anfühlt und was für Auswirkungen es auf mein Leben hat, ist immer wieder eine grosse Herausforderung. Duschen ist nun etwas sehr alltägliches, das alle Menschen kennen und machen. Und beim Duschen werden alle Sinne angesprochen, deshalb möchte ich an diesem Beispiel ausführen, wie sich die hohe Reizempfindlichkeit für mich anfühlen kann.

Reizempfindlichkeit

Ich habe mich dazu entschieden, in diesem Text das Wort Reizempfindlichkeit zu benutzen, da es mir am passendsten erscheint. Es geht mir dabei um die körperlichen Sinneseindrücke, ums Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten. Diese Eindrücke werden von mir stärker wahrgenommen, als es der “Normalität” entspricht.
Eine erhöhte Reizempfindlichkeit oder Wahrnehmung kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. So kann sie zum Beispiel ein Merkmal einer Neurodivergenz sein, mit einer allgemeinen Hochsensibilität einhergehen oder Folge von einem Trauma oder chronischen Schmerzen sein. Bei manchen Menschen kann es nur einen oder zwei Sinne betreffen, bei anderen alle. Es kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein und auch von der Tagesverfassung beeinflusst werden. Wichtig ist hierbei zu wissen, dass die Reizverarbeitung körperlich und / oder neurologisch wirklich anders funktioniert als bei der Mehrheit der Menschen.

Leider wird einem dieses starke Empfinden oft abgesprochen, typischerweise mit Sprüchen wie “Sei nicht so empfindlich”. So ist es zum Beispiel für alle völlig verständlich, dass jemand geräuschempfindlich ist, wenn er gerade Kopfschmerzen hat, weil die Geräusche dann stärker wahrgenommen werden. Nun, ich nehme sie auch ohne Kopfschmerzen so stark wahr.
Was ich auch ab und an höre ist, “Ja, wenn ich mich da drauf konzentriere, nehme ich das auch alles wahr…” Bei mir ist das eher gegenteilig, Ich muss mich konzentrieren, um die Reize auszublenden und mich auf etwas fokussieren zu können. 

Zum Duschen

Da bin ich also in einem Badezimmer mit meist viel zu hellem Licht, das mir in die Augen sticht. (Reminder an mich selber: Gedämpftes Licht im Bad installieren) Nun muss ich mich erst mal ausziehen, was durch die Bewegung des Stoffes und den Temperaturwechsel auf meiner Haut schon viele Reize auslöst. Dann die Dusche anstellen und die richtige Temperatur finden. Hier kommt nun das laute Geräusch des Wasserrauschens hinzu. Das Finden der Temperatur ist auch nicht ganz leicht, weil es mir sehr schnell entweder zu heiss oder zu kalt ist. Dann das Wasser auf der Haut. Es fliesst von oben auf mich, zieht an meinen Haaren und sucht sich unberechenbare Wege über meine Haut. Es gibt immer Stellen am Körper, die gerade vom Wasser angenehm warm sind, und andere, die von der Luft kalt sind. Eine taktile Herausforderung. Nun denn, Shampoo und Seife… Jetzt kommen also noch die Gerüche hinzu. Um beides sinnvoll aufzutragen, muss ich zumindest teilweise aus dem warmen Wasser hinaus in die Kälte. Der Schaum bringt natürlich auch noch einen zusätzlichen Reiz ins Ganze. Und wenn das alles gemacht ist, müsste ich wieder aus der Dusche raus… Aber inzwischen hat sich die Luft darin soweit aufgeheizt, dass es eigentlich ganz angenehm ist und dem Wasserrauschen kann ich auch eine meditative Wirkung abgewinnen. Weil wenn ich raus gehe, ist fertig mit der Entspannung, da werde ich zuerst wieder kalt haben und mich erst abtrocknen müssen, bevor ich mich wieder anziehen kann. Also bleib ich und geniesse die Reize -jetzt, da ich mich dran gewöhnt habe- noch etwas länger. Mit geschlossenen Augen natürlich, damit mich das Licht nicht blendet…
Und wenn ich es dann geschafft habe, angezogen und wieder aufgewärmt bin, bin ich wach. Egal wie müde ich vorher war und egal, wie anstrengend das Duschen ist, die Reizüberflutung des Duschens hat immer zur Folge, dass ich nachher wach bin. Ich denke, das liegt daran, dass mein Körper durch die Reize so sehr angeregt wurde und zuerst wieder runterfahren muss.

Alltagsauswirkungen

Nun, wie ihr euch jetzt vorstellen könnt, dusche ich nicht täglich, hab es nie gemacht, auch wenn mir erst vor kurzem klar wurde, warum das so ist. Wenn ich komplett selbstbestimmt wäre, würde ich immer erst dann duschen, wenn sich mein Körper komisch klebrig anfühlt, mein Kopf mich juckt oder wenn ich meinen Geruch selber unangenehm finde. Da ich aber weiss, dass ich meinen eigenen Geruch meist erst später unangenehm finde als andere Menschen, versuche ich natürlich, dies zu berücksichtigen. Schliesslich sitze ich im Zug auch nicht gern neben jemandem, der stinkt – wobei ich mich öfter von Parfum gestört fühle als von natürlichem Körpergeruch. 

Heute bin ich in der sehr privilegierten Lage, dass ich mein Zuhause nur 1-2 mal pro Woche verlassen muss und sich meine Lieblingsmenschen nicht daran stören, wenn ich ein paar Tage nicht geduscht habe. Es gibt also nur selten Situationen, in denen ich aus Rücksicht auf andere Duschen muss.

Früher war das anders. Wenn man täglich in die Schule oder zur Arbeit muss und dabei mit Menschen konfrontiert ist, wird erwartet, dass man öfter duscht. Ich habe auch immer versucht, darauf Rücksicht zu nehmen. Trotzdem ist es mir immer mal wieder passiert, dass mich jemand auf die Seite genommen und mir nahegelegt hat, doch etwas öfter zu duschen. Und ja, ich habe in diesen Zeiten auch immer Deos benutzt, obwohl ich sie sensorisch als äusserst unangenehm empfinde. Es war einfach so, dass ich nach der Arbeit nicht mehr die Energie hatte, täglich zu duschen. Und weil ich auch ziemlich vergesslich bin und ein ganz schlechtes Zeitgefühl habe, kam es immer wieder vor, dass ich dachte, doch gestern erst Geduscht zu haben, nur um dann festzustellen, dass dieses Gestern schon ein paar Tage her ist…

Nicht nur beim Duschen

Es ist nun natürlich so, dass ich diese Reizempfindlichkeit nicht nur beim Duschen habe, sondern eben ständig. Und so werden viele Dinge, welche andere Menschen mal so schnell nebenbei machen, für mich zu Herausforderungen. Sei es eine Fahrt im ÖV, das Einkaufen, die Essens- oder Kleiderauswahl, der Besuch einer Bar. Alles, wo sich Dinge bewegen, wo Geräusche sind oder Gerüchte, wo ich etwas schmecke oder mich etwas berührt… All das braucht viel Energie und oft überwältigen mich all die Eindrücke, eben weil ich sie nicht filtern kann.
Seit ich gelernt habe, dies zu erkennen und auszudrücken, ist der Umgang damit für mich leichter geworden. Ich weiss jetzt, dass ich mich nicht schwierig anstelle, dass ich zwar empfindlich bin, aber auf einer wertfreier, sachlichen Ebene. Dass ich eben kein Drama mache, sondern mein Körper diese Reize anders aufnimmt und verarbeitet als andere. Dass ich es nicht immer aushalten muss, sondern auch die Situation anpassen oder aus ihr herausgehen kann. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen dies respektieren, wenn ich es erklären kann.

Konsequenzen und Strategien

Nun gibt es natürlich verschiedene Strategien, um gewisse Reize abzuschwächen oder möglichst angenehm zu machen. So kann ich zum Beispiel Noise Cancelling Kopfhörer anziehen. Dann höre ich weniger, habe aber den taktilen Reiz der Kopfhörer. Und es ist wirklich richtig schwierig, bequeme Kopfhörer zu finden. Oder ich kann eine Sonnenbrille aufsetzen, um das Licht zu dämpfen, aber auch hier habe ich den taktilen Reiz der Bügel auf der Nase und hinter den Ohren sowie die visuelle Irritation, eine Scheibe vor den Augen zu haben. Es ist bei diesen Dingen also eher die Frage, welche Reize gerade weniger schlimm sind – die gegebenen oder diejenigen, welche durch das Vermeiden derselben entstehen. 
Da ich auch sehr temperaturempfindlich bin, trage ich auch an warmen Tagen meist eine Jacke herum, um in klimatisierten Räumen oder gegen Abend nicht zu frieren. Als Schneiderin kann ich mir meine Kleider selber machen und so an meine Anforderungen punkto Bequemlichkeit und Material anpassen. 

Neben diesen zieht es natürlich auch soziale Konsequenzen mit sich. So überlege ich es mir mehrmals, ob ich jemanden wirklich in einer Bar treffen will oder ob es nicht doch eine andere, ruhigere Möglichkeit gibt. Ob ich jetzt wirklich an diese Party will, die mich eigentlich nicht sehr interessiert, nur weil alle meine Freunde dorthin gehen. Oder ob ein Wochenende wirklich der richtige Zeitpunkt ist, in den Zoo zu gehen. 
Ich habe gelernt, dass es manchmal besser ist, auf Dinge zu verzichten, wenn das Verhältnis “angenehme Reize – unangenehme Reize” für mich nicht stimmt. 

Rücksicht

Natürlich ist es schön, wenn andere Menschen Rücksicht nehmen, jedoch erwarte ich dies nicht. Was ich erwarte, ist die Akzeptanz meines Erlebens und meiner daraus resultierenden Bedürfnisse. So wie ich meine Bedürfnisse habe, haben andere ihre Bedürfnisse.  Schlussendlich ist es immer ein gegenseitiges Rücksicht nehmen und Lösungen finden. Ich versuche zu Duschen, bevor ich unter Menschen gehe, ihr verzeiht es mir, wenn ich es mal nicht schaffe. Oder, wenn ich an einer Geburtstagsparty bin und dort “für die Stimmung” Musik läuft, kann mir das schnell zuviel werden und ich kann mich nicht mehr auf die Gespräche fokussieren. Vielleicht ist es dann für die Anwesenden völlig in Ordnung, die Musik leiser zu machen oder auszuschalten, vielleicht nicht. Vielleicht ist es in einem anderen Raum etwas leiser. Vielleicht ist es auch besser, wenn ich nur kurz bleibe oder die Person von Anfang an in einem anderen Setting treffe. Natürlich kann ich auch einfach nichts sagen und das ganze durchstehen, nur bringt das niemandem etwas. Und natürlich gibt es auch Situationen, die man nicht so einfach ändern kann, im Feierabendverkehr sind die ÖV nun mal voll und manchmal lässt es sich nicht vermeiden, dann unterwegs zu sein.

Die gute Seite

Dieser Text mag sich vielleicht etwas negativ lesen, so ist er keinesfalls gemeint. Eine hohe Reizempfindlichkeit bringt auch viel Gutes mit sich, das ist nur meistens unauffälliger, weil es nicht als störend wahrgenommen wird. So nehme ich vielleicht den Duft einer Blume schon von weitem wahr, während jemand anders dafür direkt an ihr riechen muss. Ich höre im Autolärm auch den Vogel, der in einem Baum zwitschert. Ich kann mich in einem schönen Lichtreflex verlieren und das Anfassen eines angenehmen Materials kann mir ein grosses Wohlgefühl vermitteln. Auch das Duschen kann ich als einzigartiges, sinnliches Erlebnis geniessen, wenn der Moment gerade stimmt.

Eine hohe Reizempfindlichkeit ist einfach etwas, was zu einem Menschen gehört oder eben nicht. So wie manche Menschen schnell einen Sonnenbrand bekommen und andere nicht. Natürlich ist es -wie es in unserer Gesellschaft nunmal ist- leichter, wenn man nicht so empfindlich ist, trotzdem ist es nichts Schlechtes, so zu sein.