Von Tabus und Normalisierung

Oder wie wir uns selber im Abseits behalten

Immer wieder lese ich, dass meine Sexualität nur mich (und meine Gegenüber) etwas angeht. Diese Aussage ist grundsätzlich korrekt. Dennoch bringt sie mich zum Nachdenken, vor allem wenn sie in Verbindung mit dem Wunsch nach Akzeptanz einhergeht. Führt dieses “nicht darüber reden” doch auch dazu, dass es ein Tabuthema bleibt. Über dieses Paradox möchte ich gerne in diesem Text eingehen.

Mein Wunsch ist eine Welt, in der alle selber entscheiden können, was von sich sie mit wem teilen wollen. Ohne sich von Überlegungen zu allfälligen Konsequenzen davon abhalten zu lassen. 

Je nachdem, welches Modell man anschaut, gehört Sexualität genau wie essen, trinken und schlafen zu den physiologischen Grundbedürfnissen. Trotzdem wird es völlig anders gewertet. Es ist absolut normal, sich darüber zu unterhalten, was man am Abend gegessen hat oder wie man ein bestimmtes Gericht auf unterschiedliche Arten zubereiten kann. Aber nur sehr wenige kommen auf die Idee oder trauen sich, auf die Frage, was man am letzten Abend gemacht hat, mit “Ich hatte wunderbaren Sex und wir haben diese neue Stellung ausprobiert, wenn du willst kann ich dir ein paar Tipps dazu geben” zu antworten. Und wenn man es trotzdem macht, wird man an den meisten Orten komisch angeschaut. Im schlimmsten Fall kann es sogar als sexuelle Belästigung ausgelegt werden. 

Ich will hier nicht darüber schreiben, wie es dazu gekommen ist und mich auch nicht in den Risiken, welche diese Tabuisierung mit sich bringt, verlieren. Trotzdem sind die Risiken zahlreich, angefangen bei ungewollten Schwangerschaften, über Krankheiten bis zu körperlichen Verletzungen, wenn man z.B. Analsex ohne Gleitgel betreibt. Und dabei sind wir noch bei der eher “normalen” Sexualität. Sobald man sich mit etwas ausgefalleneren Dingen wie BDSM beschäftigt, wird es umso wichtiger, sich zu informieren und Erfahrungen auszutauschen.

Was ich hier will, ist zu hinterfragen, warum wir an diesem Tabu festhalten und es indirekt unterstützen, indem wir eben darauf beharren, dass unser Sexleben niemanden etwas angeht.

Wir alle haben verschiedene Interessen, Sexualität kann eines davon sein. Genauso wie Sport, Politik oder das Wetter. Und genauso sollte es meiner Meinung nach gehandhabt werden. Als ein Themenbereich, der einen interessieren kann, oder eben nicht. Wenn ich jemanden frage, was er am Wochenende gemacht hat, und diese Person mir mit “Ich war an einem Fussballspiel” antwortet, steht es mir frei, weiter auf das Thema einzugehen oder über etwas anderes zu reden. Genauso sollte es mit der Sexualität sein. Dies wird aber nie geschehen, wenn wir daran festhalten, dass unsere Sexualität niemanden etwas angeht. Weil wir dadurch die Möglichkeit eines natürlichen und wertfreien Gesprächs gar nicht erst zulassen. 

Ich verstehe vollkommen, dass man sich nicht des Getuschels und der Vorurteile aussetzen möchte, die oft mit dem Thema verbunden sind. Dennoch, wenn ich mit der Erwartung von selbigem in ein Gespräch starte, erhöhe ich dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommt. Wenn ich hingegen ganz offen und natürlich darüber erzähle, zeige ich damit, dass es ein normales Thema ist, und dass es daran nichts gibt, wofür ich mich schämen müsste. Und genau damit trage ich zur Normalisierung bei. 

Ich bin schon immer sehr offen mit meiner Sexualität umgegangen, ohne sie jemandem aufdrängen zu wollen. Tatsächlich habe ich selten schlechte Erfahrungen mit dieser Offenheit gemacht. Vor allem weil ich, genau wie bei jedem anderen Thema, akzeptiere, wenn es jemanden nicht interessiert. Offenheit ist nicht dasselbe wie missionieren. Ich muss niemanden dazu bringen, mehr Sex zu haben, oder anderen Sex. Genauso wie niemand mich dazu bringen muss, mehr Sport zu machen. Oder wie der Fussballfan nicht von Eishockey überzeugt werden muss. Ich kann es völlig unverständlich finden, 23 Menschen dabei zuzuschauen, wie sie einem Ball hinterher rennen. Und du kannst es völlig unverständlich finden, dass ich stundenlange sexuelle Aktivitäten toll finde. Vielleicht begeistern wir uns gemeinsam dafür, Vögel zu beobachten.
Es ist völlig in Ordnung, wenn sich jemand nicht für das Thema interessiert, aber ich bin nicht bereit, dieses Interesse von mir grundsätzlich totzuschweigen, nur weil die Gesellschaft das so handhabt. Ich bin nicht bereit, es zu behandeln, als wäre es etwas falsches oder schlechtes. Ich bin nicht bereit, so zu tun, als würde es nicht existieren. Denn, zur Erinnerung, es kann ein Grundbedürfniss sein. Es ist etwas, was ganz viele von uns machen. Vermutlich gibt es sogar mehr Menschen, die Sexualität in irgendeiner Weise leben, als es Menschen gibt, die gern Fussball schauen. 

Natürlich geht meine Sexualität primär mich selber und meine Gegenüber etwas an. Und es sollte immer meine Entscheidung sein, wem ich etwas davon erzählen mag. Es ist nicht meine Intention zu erwarten, dass wir unsere persönlichen Erlebnisse mit allen teilen müssen. Aber ich finde, es sollte möglich sein, sich auf einer sachlichen Ebene darüber zu unterhalten. Wenn mir jemand von einem Fussballspiel erzählt, geht es dabei ja auch meist mehr um Spielzüge und weniger um die Emotionen, die dabei ausgelöst werden. 

Ich bewege mich in einem sehr offenen Umfeld, habe sexpositive und kinkaffine Personen um mich, mit denen ich offen über diese Themen sprechen kann. Die sich ebenfalls mehr Offenheit von der Gesellschaft wünschen. Die nicht verheimlichen wollen, was sie machen. Die Sprüche wie “Ich bin im Club rumgehangen” zwar lustig finden, um im Geschäft das Wochenende im BDSM-Ausgang zu umschreiben, sich aber eigentlich keine solchen Ausreden ausdenken wollen. Aus Angst um ihren Job oder ihr Ansehen jedoch nicht darum herum kommen. 

Ja, wir haben diese Akzeptanz verdient. Wir haben es verdient, nicht verurteilt zu werden. Wir haben eine Gesellschaft verdient, in der wir angstfrei zu uns stehen können. In der wir wirklich frei entscheiden können, mit wem wir etwas teilen, über etwas sprechen wollen. 

Aber. 

Solange auch wir, die wir eigentlich offen damit umgehen, dies verstecken und unsere Toys lieber beim Sexshop mit neutraler Verpackung bestellen, arbeiten wir genauso gegen uns selbst wie die anderen. Wir verstecken uns und tragen damit dazu bei, dass es ein Tabuthema bleibt. Bei jeder anderen Bestellung im Internet ist auf dem Paket gross Werbung angebracht. Der Pöstler sieht, dass wir uns für Sport oder Technik interessieren. Warum sollte das gerade bei der Sexualität anders sein? Warum schämen wir uns dafür, einen Dildo zu kaufen? Warum dürfen aber alle wissen, dass wir gerne basteln? Warum ist es ok, auf der Kreditkartenabrechnung eine Rückenmassage stehen zu haben, aber Sexarbeit bezahlen wir doch lieber mit Bargeld? 

Wir erwarten, dass die Gesellschaft uns anerkennt, uns nicht abwertet, uns so behandelt wie alle anderen auch. Wir erwarten, dass Sexualität normal ist. Dies kann aber nur geschehen, wenn wir uns auch so verhalten. Wenn wir diese Normalität vorleben. Nicht indem wir vor dem Kindergarten vögeln. Das ist genauso unangemessen, wie vor dem Kindergarten einen Boxkampf auszutragen. Sondern indem wir offen mit dem Thema umgehen. Akzeptieren, wenn jemand nichts davon wissen will. Fragen beantworten, wenn sie uns gestellt werden. Vorurteile entkräften, wo wir können. Uns nicht verstecken, sondern zu uns stehen.
Ja, ich habe in der Mittagspause Essen und Kondome für den Abend gekauft.