Meiner Ansicht nach gibt es zwei Arten von Wahrheiten, die sachlichen Wahrheiten und die individuellen, emotionalen Wahrheiten. Über den Unterschied dieser, sowie deren möglicher zwischenmenschlicher Auswirkungen möchte ich hier schreiben.
Dazu werde ich wieder eine Analogie benützen, die von einem zerbrochenen Glas.
Die Situation
Die Sachlichen Wahrheiten
Ich halte ein Glas in der Hand. Das Glas fällt zu Boden. Das Glas zerbricht.
Sachliche Wahrheiten sind unumstösslich und keine Ansichtsfrage. Es sind Fakten. In emotionalen und zwischenmenschlichen Belangen können diese Wahrheiten im Nachhinein oft nur in Teilen sicher nachvollzogen werden. Um es mit 100%iger Sicherheit machen zu können müssten wir alles, was wir tun aus jedem Blickwinkel und mit Ton filmen. Wir selektionieren unsere Erinnerung, wir erinnern uns nur an das, was für uns Wichtig ist. Und über die momentane Wichtigkeit entscheidet meiner Meinung nach immer das Erleben, was zur individuellen, emotionalen Wahrheit führt. Dies erklärt, warum sich Menschen oft an verschiedene faktische Details von gemeinsam Erlebtem erinnern. Die anderen Erinnerungen sind nicht immer weg, manchmal brauchen sie aber einen Anstups um wieder hervor zu kommen.
Meine Individuelle, emotionale Wahrheiten
- Ich habe das Glas fallen lassen, ich muss die Scherben zusammen nehmen.
- Ich bin so ungeschickt, dass ich das Glas kaputt gemacht habe.
- Oh, das Glas ist runter gefallen, Scherben bringen Glück!
- Ich bin so wütend, ich habe das Glas absichtlich auf den Boden geworfen.
- Ich habe zu wenig Kraft, um das Glas zu halten.
All dies und noch viel mehr können meine Individuellen Wahrheiten sein. Individuelle Wahrheiten sind oft sehr emotionsgeprägt. Wie meine Individuellen Wahrheiten sind, hängt mit der Situation, früheren Erfahrungen mit ähnlichen Situationen, meiner Tagesverfassung, meinem Charakter und vielen anderen Faktoren ab. Nur ich kann wissen, wie meine individuelle Wahrheit aussieht.
Um das Ganze noch ein bisschen Komplizierter zu machen, gibt es noch die individuellen Wahrheiten von allen Anderen. Diese können mit meiner Wahrheit übereinstimmen, oder völlig gegenteilig sein. Oder irgendwas dazwischen, mit kleineren oder grösseren Abweichungen.
Andere individuelle, emotionale Wahrheiten
- Du hast das Glas fallen lassen, jetzt muss ich die Scherben zusammen nehmen.
- Du gibst dir keine Mühe, darum hast du das Glas kaputt gemacht.
- Oh, das Glas ist runter gefallen, Scherben bringen Glück!
- Du bist so wütend, dass du unkontrolliert mit dem Glas schmeisst.
- Du bist zu schwach, um das Glas zu halten.
Genauso wie bei meinen individuellen Wahrheiten kann nur jeder einzelne für sich wissen, wie seine Wahrheit aussieht. Je mehr Personen auf irgend eine Weise in eine Situation involviert sind, oder auch nur von ihr gehört haben, desto mehr unterschiedliche individuelle Wahrheiten gibt es. Dies kann es einfacher machen, die sachliche Wahrheit möglichst korrekt zu rekonstrueren, weil mehr Faktendetails zusammen kommen können. Es kann es aber auch schwieriger machen, weil viel mehr Unterschiede in der individuellen Wahrnehmung vorhanden sein können.
Meine Gedanken dazu
Im Idealfall stimmt meine Individuelle Wahrheit grösstenteils mit denen meines Gegenübers überein oder ich kann mich so gut in es hineinversetzen, dass ich eine mehr oder weniger korrekte Vermutung über seine Wahrheit machen kann. Oft ist es gar nicht so wichtig, ob unsere Wahrheiten überhaupt mit denen von anderen Übereinstimmen. Oder man kann einigermassen gut einschätzen, wie sehr das eigene Erleben mit der sachlichen Wahrheit oder derjenigen von jemand Anderem übereinstimmt. Vielleicht erinnert sich die eine Person an mehr sachliche Wahrheiten, mehr Fakten, die andere erinnert sich besser an Gefühle und somit individuelle Wahrheiten. Die wenigsten Menschen können sich jedes Wort, dass sie gesprochen oder gehört haben merken, somit ist es unmöglich, eine Situation im nachhinein Faktisch vollständig zu rekonstruieren.
Ich denke es ist unmöglich, dass zwei Personen das genau gleiche Erlebnis haben. Weil sie dafür vorher das genau gleiche Leben hätten führen müssen. Somit gehe ich davon aus, dass ich grundsätzlich alles anders erlebe als alle anderen Menschen. Und das ist in Ordnung so. Meistens ist es auch nicht so wichtig, wie das Gegenüber eine Situation genau erlebt, zumindest solange man das selbe Grunderleben, die selben Grundemotionen hat. Schwierig kann es werden, wenn man in völlig unterschiedlichen Grunderleben ist, oder wenn man sicher war, zu wissen wie das Gegenüber die Situation gerade erlebt, um dann festzustellen, das man sich getäuscht hat.
In diesem Moment kann es passieren, dass man sich fragt, wessen Erleben das “Richtigere” ist. Ich finde es sehr schwierig, in diesem Zusammenhang von “Richtig” oder “Falsch” zu schreiben. Jede individuelle Wahrheit ist für sich gültig und berechtigt. Für diese Person stimmt sie. Egal, ob ich sie verstehen und oder nachvollziehen kann oder nicht.
Es kann manchmal hilfreich sein, die eigene Wahrheit, das eigene Erleben mit dem von anderen Abzugleichen. Vielleicht habe ich das Glas ja ausnahmsweise nicht fallen lassen, weil ich schusselig bin, sondern weil mich eine Wespe gestochen hat, welche der Andere nicht sah. Nun bin ich wegen des Stiches etwas panisch. Mein Gegenüber denkt anhand seiner Vorererfahrung mit mir folgerichtig, ich sei wütend über mich selber weil ich schon wieder ein Glas kaputt gemacht habe. Nun liegt es an mir, ihn über den Wespenstich aufzuklären. Durch diese Information kann sich -auch im Nachhinein- die individuelle Wahrheit des Menschen ändern. Wenn er mich zuerst beruhigen wollte, dass es nicht so schlimm ist ein Glas kaputt zu machen, macht er sich nun Sorgen wegen des Stichs. Nun wird sich auch seine Wahrnehmung anpassen und meine Reaktion in der Erinnerung von -seiner ersten Vermutung- Wut in -durch die Information ihm nun verständliche- Panik umdeuten und sich mehr an letztere Erinnern.
Ist es jetzt schlimm, dass mein Gegenüber von seinem Erfahrungswert ausgegangen ist? Ich denke nicht. Ist es schlimm, dass es nicht merkte, dass dieses Mal etwas anders ist? Das kommt wohl darauf an, wie wichtig es mir in dem Moment emotional ist und wie sehr ich dem Ausdruck verleihe. Wenn ich mich normal verhalte, kann mein Gegenüber das auch nichts merken. Wenn ich nur vage Andeutungen mache, können diese Missverstanden werden. Wenn es für mich wichtig ist, dass mein Gegenüber weiss, wie ich etwas erlebe oder erlebt habe, liegt es in meiner Verantwortung, dies mitzuteilen.
Sätze wie “Ich:Du hätte:st das merken müssen” sind für mich eher destruktiv. Sie setzen voraus, dass mein Gegenüber alles weiss und nachfühlen kann was ich weiss und fühle. Oder dass ich dies von meinem Gegenüber weiss. Und das ist meiner Meinung nach schlicht unmöglich.
Trotzdem gibt es manchmal Situationen, wo man ähnliche Gedanken hat. Und diese Situationen können schwierig sein, weil man beginnt, zu zweifeln, an sich selbst und oder am Gegenüber. Oder weil man von sich und oder dem Gegenüber enttäuscht ist.
Für mich persönlich ist es in diesen Momenten hilfreich, die Unterschiede und Übereinstimmungen im Erleben der Sachlichen sowie der individuellen, emotionalen Wahrheit abzugleichen. Möglichst viele Blickwinkel der Situation zu kennen, zu berücksichtigen und zu vergleichen.
Um sie zu verstehen, um nachvollziehen zu können, wo sie herkommen.
Um vielleicht für die Zukunft zu lernen…